Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der etwas gleichzeitig existiert und nicht existiert. Ein Thema, das in privaten Gesprächen, in den schillernden Bars von Metropolen und auf Millionen von Smartphones präsent ist, aber in offiziellen Medien, Schulbüchern und Regierungserklärungen kaum einen Platz findet.
Dies ist die paradoxe Welt der Homosexualität im modernen China. Es ist eine Geschichte von tiefgreifenden historischen Wurzeln, rechtlichen Kehrtwenden, erdrückendem Familiendruck und dem unermüdlichen Streben einer Gemeinschaft nach Sichtbarkeit in einem Umfeld, das Ambivalenz zur offiziellen Politik erhoben hat. Um zu verstehen, was es bedeutet, heute in China schwul zu sein, muss man die feinen Linien zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gelebt wird, nachzeichnen.
Ein Blick zurück: Von kaiserlicher Toleranz zu moderner Pathologisierung
Entgegen der weit verbreiteten Annahme ist die strikte Ablehnung von Homosexualität in China kein uraltes kulturelles Erbe. Tatsächlich finden sich in der langen chinesischen Geschichte, insbesondere während bestimmter Dynastien wie der Han- oder der Tang-Dynastie, zahlreiche Aufzeichnungen über gleichgeschlechtliche Beziehungen, die oft mit einer bemerkenswerten Toleranz betrachtet wurden. Begriffe wie "die Leidenschaft des abgeschnittenen Ärmels" (断袖之癖, duànxiù zhī pǐ) – eine Anspielung auf einen Kaiser, der lieber den Ärmel seines Gewandes abschnitt, als seinen schlafenden männlichen Geliebten zu wecken – zeugen von einer literarischen und höfischen Kultur, die gleichgeschlechtliche Liebe anerkannte. Diese Beziehungen wurden nicht als identitätsstiftend im modernen westlichen Sinne gesehen, sondern als Teil des menschlichen Spektrums, solange die konfuzianische Pflicht zur Heirat und zur Fortführung der Familienlinie erfüllt wurde.
Diese relative Offenheit änderte sich drastisch mit dem zunehmenden Einfluss des Westens im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Mit westlicher Medizin und Rechtswissenschaft kamen auch neue Konzepte von Sexualität, die Homosexualität als psychische Störung oder als Verbrechen klassifizierten. Diese importierten Vorstellungen fielen auf fruchtbaren Boden und verdrängten die traditionellere Akzeptanz. Der Höhepunkt der Unterdrückung wurde während der Kulturrevolution unter Mao Zedong erreicht, als jegliche Form von nicht-normativer Sexualität als "bürgerliche Dekadenz" gebrandmarkt und brutal verfolgt wurde. Homosexuelle Handlungen wurden unter dem Gummiparagrafen des "Hooliganismus" (流氓罪, liúmáng zuì) bestraft, was zu öffentlichen Demütigungen, Umerziehungslagern und langen Haftstrafen führen konnte. Diese Phase hinterließ ein tiefes Trauma und drängte die LGBTQ+-Gemeinschaft für Jahrzehnte vollständig in den Untergrund.
Die rechtliche Situation: Die Politik der "Drei Neins"
Die Wende begann erst nach Maos Tod und der wirtschaftlichen Öffnung Chinas. Zwei Meilensteine markieren den rechtlichen Fortschritt: 1997 wurde das vage formulierte Gesetz gegen "Hooliganismus" aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, was Homosexualität de facto entkriminalisierte. Vier Jahre später, im Jahr 2001, entfernte die Chinesische Gesellschaft für Psychiatrie Homosexualität von ihrer offiziellen Liste der psychischen Krankheiten. Dies waren monumentale Schritte, die der LGBTQ+-Gemeinschaft eine neue rechtliche Sicherheit gaben. Seitdem ist einvernehmlicher, nicht-kommerzieller Sex zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts legal.
Allerdings bedeutet Legalität nicht Gleichberechtigung. Es gibt in China keine Antidiskriminierungsgesetze, die explizit die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität schützen. Gleichgeschlechtliche Ehen oder eingetragene Partnerschaften sind nicht anerkannt. Die offizielle Haltung der Regierung lässt sich am besten mit der ungeschriebenen Politik der "Drei Neins" (三不政策, sān bù zhèngcè) beschreiben: keine Zustimmung, keine Ablehnung, keine Förderung (不支持, 不反对, 不提倡). Diese Politik der strategischen Ambivalenz ermöglicht es dem Staat, internationale Kritik zu vermeiden, während er gleichzeitig jegliche öffentliche Förderung von LGBTQ+-Rechten unterbindet. Es schafft einen fragilen Raum, in dem die Gemeinschaft existieren kann, solange sie nicht zu laut, zu sichtbar oder zu politisch wird.
Der unsichtbare Käfig: Familiendruck und die Pflicht zur Heirat
Für die meisten homosexuellen Menschen in China ist nicht die Regierung die größte Hürde, sondern die eigene Familie. Das konfuzianische Ideal der kindlichen Pietät (孝, xiào) ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Die größte Pflicht eines Kindes, insbesondere eines Sohnes, ist es, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen, um die Blutlinie der Familie fortzusetzen. Ein Coming-out wird daher oft nicht nur als persönliche Entscheidung, sondern als Verrat an den Eltern und Vorfahren empfunden. Die Angst, die Eltern zu enttäuschen, Schande über die Familie zu bringen und sie im Alter ohne Enkelkinder zurückzulassen, erzeugt einen immensen psychischen Druck.
Dieses Dilemma hat zu einem einzigartigen sozialen Phänomen geführt: den sogenannten "Scheinehen" oder "Kooperationsehen" (形婚, xínghūn). Dabei heiratet ein schwuler Mann eine lesbische Frau, um den Erwartungen beider Familien gerecht zu werden. Nach außen hin führen sie das Leben eines heterosexuellen Ehepaares, während sie im Privaten getrennte Leben führen und ihre eigenen gleichgeschlechtlichen Partner treffen können. Diese Arrangements sind oft komplexe Verträge, die Finanzen, den Umgang mit den jeweiligen Eltern und manchmal sogar die Zeugung eines Kindes durch künstliche Befruchtung regeln. Während diese Ehen für einige eine pragmatische Lösung darstellen, sind sie für viele andere eine Quelle von großem emotionalem Stress und verdeutlichen den tiefen Konflikt zwischen individueller Identität und kollektiver Verantwortung.
Urbane Freiräume versus ländliche Realität
Das Leben als schwuler Mann oder lesbische Frau in China ist stark vom Wohnort abhängig. In den pulsierenden Megastädten wie Shanghai, Peking, Guangzhou und Chengdu hat sich eine lebendige und relativ offene LGBTQ+-Szene entwickelt. Hier gibt es Bars, Clubs, Gemeinschaftszentren und von der Community organisierte Veranstaltungen. Insbesondere Shanghai galt lange Zeit als die "Regenbogen-Hauptstadt" Chinas, mit einer jährlichen Pride-Woche, die über ein Jahrzehnt lang stattfand, bevor sie 2020 unter offiziellem Druck abrupt eingestellt wurde.
Digitale Plattformen spielen eine entscheidende Rolle bei der Vernetzung. Die chinesische App "Blued" ist die weltweit größte Dating-App für schwule Männer mit zig Millionen Nutzern. Sie bietet nicht nur eine Plattform für die Partnersuche, sondern auch für Community-Building, Gesundheitsinformationen und soziales Engagement. Diese digitalen Oasen bieten einen Grad an Anonymität und Freiheit, der im realen Leben oft fehlt. In ländlichen Gebieten und kleineren Städten ist die Situation jedoch völlig anders. Dort dominieren traditionelle Werte, soziale Kontrolle ist stärker und Anonymität ist kaum möglich. Ein offenes Leben ist hier für die meisten undenkbar, was viele junge LGBTQ+-Personen dazu veranlasst, in die großen Städte zu ziehen, um Freiheit und Gemeinschaft zu finden.
Die gläserne Decke: Zensur in Medien und Kultur
Trotz der wachsenden sozialen Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung zieht die Regierung die Zügel in den Medien und im Internet immer wieder an. Die Darstellung von Homosexualität im Fernsehen, in Filmen und sogar online unterliegt strengen Vorschriften. LGBTQ+-Themen werden oft als "abnormaler sexueller Inhalt" eingestuft und zensiert. Als beispielsweise der Film "Bohemian Rhapsody" in China gezeigt wurde, wurden alle Szenen, die sich direkt auf Freddie Mercurys Homosexualität bezogen, herausgeschnitten. Beliebte Fernsehserien, die andeutungsweise queere Charaktere zeigten, wurden plötzlich aus den Streaming-Diensten entfernt oder umgeschnitten.
Auch in den sozialen Medien kommt es immer wieder zu Säuberungsaktionen. Hashtags, die sich auf LGBTQ+-Themen beziehen, werden auf Plattformen wie Weibo blockiert, und Konten von bekannten Aktivisten oder queeren Influencern werden ohne Vorwarnung gelöscht. Diese Zensur schafft eine Atmosphäre der Unsichtbarkeit. Sie sendet die Botschaft, dass die Existenz von LGBTQ+-Menschen zwar geduldet, ihre Geschichten und ihre Kultur aber nicht Teil des öffentlichen Diskurses sein sollen. Es ist ein ständiger Kampf um Sichtbarkeit gegen eine Zensurmaschinerie, die darauf abzielt, eine "gesunde" und "harmonische" Gesellschaft nach den Vorstellungen der Partei zu formen.
Ein Ausblick auf die Zukunft: Der leise Kampf geht weiter
Die Situation für homosexuelle Menschen in China ist ein komplexes Mosaik aus Fortschritt und Rückschritt, aus wachsender Akzeptanz in der Bevölkerung und anhaltender Repression durch den Staat. Es ist kein linearer Weg in Richtung Gleichberechtigung, sondern ein ständiges Navigieren in einem von Widersprüchen geprägten Umfeld. Junge Generationen, die stärker global vernetzt und informierter sind, zeigen eine deutlich höhere Akzeptanz als ihre Eltern. Kleine, aber mutige Gruppen von Aktivisten nutzen die begrenzten rechtlichen Möglichkeiten, um durch Klagen auf Anerkennung oder gegen Diskriminierung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Auch wenn diese Klagen selten erfolgreich sind, schaffen sie öffentliche Aufmerksamkeit. Die Zukunft der LGBTQ+-Rechte in China wird nicht durch laute Proteste entschieden, sondern durch den leisen, beharrlichen Wandel in den Köpfen der Menschen, in den Familien und in den digitalen Nischen, die sich der staatlichen Kontrolle immer wieder entziehen. Es ist ein Kampf, der von Geduld, Widerstandsfähigkeit und der unerschütterlichen Hoffnung auf eine offenere Zukunft geprägt ist.